Geschichten aus dem Flieger. Oder: Deswegen verteile ich keine Schokolade an Mitreisende.

Die Reisezeit hat begonnen und eine der Geschichten, die zu diesem Anlass immer wieder herausgekramt werden, geisterte auch die Tage wieder im Internet umher. Es ist die der Familie, die mit ihren frisch geschlüpften Zwillingen irgendwo hinfliegen und jedem Passagier ein Tütchen mit Schokolade, Ohrenstöpseln und so weiter auf den Sitz haben legen lassen. Dazu findet sich ein kurzes Entschuldigungsschreiben, dass die beiden Kinder noch so klein sind und bestimmt mal weinen, die Eltern aber alles tun werden, damit die beiden nicht so unglücklich sein müssen. Deswegen würden sie sich über das Verständnis der Mitreisenden freuen.

Als ich das vor Jahren das erste Mal sah, fand ich das süß. Wahrscheinlich habe ich das auch retweetet oder so. Prinzipiell finde ich das immer noch süß. Und dann kommt das große ABER!

Eigentlich finde ich es nämlich bescheuert. Nicht wegen der wirklich niedlichen Geste der Eltern, sondern wegen einer Gesellschaft, die das anscheinend erwartet.

Keiner findet Kindergeschrei geil. Keiner. Also wirklich KEINER!

Eltern entwickeln gegen einen gewissen Geräuschpegel, der bei mehreren Kindern auf einem Haufen nun mal auftritt, eine erhöhte Toleranz. Das ist reiner Selbstschutz. Dasselbe gilt auch für Leute, die auf Partys, in Restaurants, Discos oder sonstwie unter Leute gehen. Wenn mehrere Menschen an einer Stelle zusammenkommen, wird es normalerweise immer lauter. Es sei denn, man befindet sich in einer Uni-Bibliothek oder so.

Richtiges Kindergeschrei können auch die Eltern nicht gut ertragen. Denn wenn das auftritt, hat der Nachwuchs meistens was. (Zumindest, wenn man die Trotzanfälle mal beiseite lässt, aber auch dann ist ja in deren kleiner Welt was kaputt.) Wie herzlos muss man aber sein, einem Säugling, der anscheinend unglücklich ist, ernsthaft böse zu sein? Klar bin ich auch mal gereizt, wenn der Ewigkeiten brüllt. Egal, zu wem dieses Kind gehört. Denn auch wenn mein eigen Fleisch und Blut herzzerreißend weint, kann mich das nerven.

Kaum ein Elternteil denkt sich „Och, dann ist das halt so.“ Oft kann man in dem Moment einfach nichts machen. Keine Mutter läuft Furchen in den Boden und schuckelt ein Baby stundenlang auf dem Arm herum, weil sie das so super findet. Auch Eltern, die Trotzanfälle scheinbar stoisch ignorieren und „nur dabei stehen“, während sich das Kind wutentbrannt auf dem Boden wälzt, machen das, weil sie aus leidvoller Erfahrung wissen, dass sie nicht viel mehr tun können, als abzuwarten.

Da braucht man keine missbilligenden Blicke oder besserwisserischen Kommentare wie „wahrscheinlich hat das Baby Hunger“. Ach so, na dann! Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin! WENN ICH WÜSSTE, WIE – WÜRDE ICH DAS KIND DANN NICHT BERUHIGEN? Himmelherrgottsakrament. Da krieg ICH Puls.

Gerne reagieren Leute auch mit so Sätzen wie „Dann geben Sie ihm halt die Schokolade.“ – Ach so. Klar. Mache ich gerne! Super Idee! Es gibt natürlich Ausnahmen, aber das hier ist gerade keine. Offensichtlich. Haben Sie aber leider wohl nicht bemerkt. Ich habe mir dummerweise diese Sache mit der „Erziehung“ vorgenommen und dazu gehört eben, dem Kind nicht immer alles zu erlauben. Ansonsten müsste ich mir übrigens anhören, ich würde „das verzogene Blag“ anscheinend „den ganzen Tag mit Schokolade vollstopfen“. Wahrscheinlich käme die Kritik auch von Ihnen.

Bei dem eingangs erwähnten Facebook-Post zum Artikel las ich irgendwo in einem Kommentar folgende Geschichte, die ich hier als Beispiel aufführe, weil sie so ein allgemeingültiges Beispiel abgibt, das sich auf viele Situationen übertragen lässt. Auf dem Flug nach Mallorca hätte ein etwa fünfjähriges Kind am Anfang des Fluges „alles vollgekotzt“ (ich fragte mich dabei nach der Menge, hierbei gibt es oft einen beachtlichen Interpretationsspielraum) und die Mutter wäre mit dem Kind auf die Toilette verschwunden und war lange nicht gesehen. Währenddessen hätte die ganze Kotze vor sich hin gegammelt, weil sie die nicht weggewischt hätte. (Eine weitere Begleitperson war nicht dabei.) Wie sowas denn bitte sein könnte?

Na, sowas aber auch! Klar ist das eklig, wenn das Erbrochene schön in die Polster einzieht und man daneben sitzt. Aber was hätte die Mutter denn machen sollen? Wenn ein Kind eine Stunde lang immer wieder reihert, kann man davon ausgehen, dass es dem nicht so super geht. (Ist aber auch nur eine ganz verrückte Idee, was weiß ich schon?). Vielleicht hat es zuviel Schokolade gegessen, denn wie weiter oben schon vorgeschlagen, sollte es das ja tun, um auf dem Weg zum Flughafen sowie in der Wartehalle bloß niemanden mit seiner Anwesenheit zu stören.

Wohin sollte die Mutter in einer solchen Situation die Priorität setzen? Dass das Kind wenigstens in die Toilette spuckt, nicht an seinem Mageninhalt erstickt und ihm beistehen? Oder es seinem Schicksal überlassen und durch den ganzen Flieger zurück zum Platz hasten, um da sauber zu machen? Hmmm? Wie man’s macht, macht man’s falsch, aber ich denke, das mit dem Kümmern ist vielleicht eine ganz gute Entscheidung.

Kleiner Tipp noch mal für die Person, die sich so furchtbar an dem Geruch störte: Ich verstehe das. Doch wenn es so schlimm ist – vielleicht einfach mal selbst Hand anlegen. Wie wäre es?

Klar gibt es auch doofe Eltern, die sich einen Scheiß um ihre Kinder kümmern und die nicht daran hindern, gegen den Vordersitz zu treten, herumzuspucken und -schreien und sich auch ansonsten zu benehmen wie die Axt im Wald. Aber lasst es euch gesagt sein: Man kann nicht alle Eltern über einen Kamm scheren. Die meisten geben sich alle Mühe, dass die Reise für alle Beteiligten so angenehm wie möglich verläuft.

Ach, und noch was: Möglicherweise beschäftigt sich mein Sohn neun von elf Stunden der Flugzeit mit dem iPad. Soll ich Ihnen was sagen? Wenn’s ihn glücklich macht, darf er das. Er wird deswegen schon nicht verblöden. Und ich interessiere mich null dafür, dass Sie früher den ganzen Tag mit Ihren Freunden im Wald gespielt haben. Sogar ohne Handy! Dass der Zweieinhalbjährige „überhaupt schon so genau weiß, wie man das Ding da bedient“ und dass Sie das unglaublich finden, ist mir auch ziemlich egal. Wenn Sie einen Wald in das Flugzeug verfrachten, indem er Steine und Stöcke sammeln und mit dem Wasser aus einem idyllischen Bächlein herumplatschen kann – dann bin ich definitiv die Letzte, die ihm das verweigert. Ach, das geht nicht? Wir sind ja hier in einem Flugzeug? Komisch. Was Sie nicht sagen! Das wäre mir gar nicht aufgefallen! Wie bin ich hier bloß hineingeraten?

Aber Sie haben natürlich schon Recht. Ich MUSS ja mit dem Zwerg keine so lange Reise antreten. Wie egoistisch von mir! Es ist ja auch schon egoistisch, dass ich dem Kind den Kontakt zu Oma und Opa verwehre, weil wir so weit weg von denen wohnen. Das kann ich also gut verschmerzen. (Dass die beiden Aussagen im Widerspruch zueinander stehen, merken Sie aber selbst, ne?)

Ich hatte gehörigen Respekt vor dem Langstreckenflug, der uns erwartete, als wir hierher zogen. Und habe mir allerlei Gedanken gemacht. Da wir in der Business Class geflogen sind, noch mal mehr. Da hat der Kleine zwar mehr Platz, aber das Klientel, das um uns herumsitzt, ist dann oft sehr meckerfreudig, weil es ja so viel Kohle für den Flug hingeblättert hat.

Irgendwann dachte ich mir aber auch: Wisster was? Aha. Der Kurze hier ist (zu dem Zeitpunkt) gerade zwei Jahre alt und muss deswegen einen eigenen Sitzplatz haben. Der zahlt also genauso viel wie Sie, Sie, Sie und auch wie Sie dahinten. A propos „Sie dahinten“: Sie haben leider Probleme mit Ihrem „Gläschen Rotwein zur Entspannung“ und schnarchen laut. Sie sägen gerade den Wald ab, in dem der Kleine der Meinung Ihres Sitznachbarns gerade besser aufgehoben wäre.

Sie und Sie haben anscheinend etwas Knoblauchlastiges gegessen und lassen den ganzen Bereich hier an Ihrem schlechten Atem teilhaben. Und Sie haben anscheinend irgendwas Blähendes zu sich genommen und ich kann Ihnen sagen – das riecht nicht gerade gut. Da hilft es auch nicht, dass Sie sich im Duty free mit einer halben Flasche Parfüm eingesprüht haben. Ja, ich habe Ihren Trick durchschaut. Ups. Ich bin jetzt Mutter, ich sehe Ihnen das an der Nasenspitze an!

Hier, und Sie da vorne, Sie haben Ihr Licht und das Ihres Nachbarn extra eingeschaltet, damit Sie noch was Lesen können. Dummerweise blendet mich das. Sie da drüben, ich gebe Ihnen gerne ein Taschentuch. Und mit dem Husten würde ich vielleicht mal zum Arzt gehen, bei dem Auswurf, den Sie in Ihre Papierserviette gespuckt haben… Uiuiui.

Von Ihnen da möchte ich gar nicht erst anfangen. Ja, auf Langstreckenflügen sollte man was komfortables tragen – aber das Shirt darf gerne über den Bach gehen und Ihre Hose ist echt ein bisschen knapp. Ich kann sehen, auf welcher Seite Ihre Kronjuwelen ein wenig größer sind. (Nein, ich wollte das nicht wissen, aber Sie standen damit direkt vor meinem Gesicht, als Sie noch mal an Ihr Handgepäck in der Ablage mussten).

Sie da drüben reden viel zu laut und außerdem merken Sie gar nicht, dass Sie Ihren Nachbarn mit Ihren Anekdoten, die weltmännisch wirken sollen, nerven. Und den Rest übrigens auch. Kleiner Tipp am Rande: Die Stewardessen wolle die nachts auch nicht hören, wenn Sie sich noch mal was zu trinken besorgen.

Bevor Sie mir alle im Vorfeld keine Schokolade plus ein paar entschuldigender Zeilen auf meinen Sitz legen lassen, wüsste ich nicht, warum ich ein schlechtes Gewissen haben sollte. Nur, weil ich es wage, ein Kind mit in ein Flugzeug zu nehmen. Und das vielleicht mal weinen könnte.

Wo kommen wir denn dahin?

Ich hoffe, an unserem Urlaubsziel oder zuhause. ;)

10 Gedanken zu “Geschichten aus dem Flieger. Oder: Deswegen verteile ich keine Schokolade an Mitreisende.

  1. Da hast Du Deinem Ärger mal so richtig Luft gemacht! Aber kannst du verstehen, dass man all dies Kindergeschrei nicht einfach vor lauter Toleranz milde lächelnd über sich ergehen lassen kann? Ich ärgere mich, wenn ich vor lauter Kindergeschrei während des Fluges kein Auge zu machen kann. Darf ich das nicht zeigen? Ich mag keine Kinder, die mir im Supermarkt so laut ins Ohr brüllen, dass mir fast das Trommelfeld platzt. Darf ich das nicht sagen?Ne, ich stehe dazu! Und Kinder (und ihre Mütter) müssen es auch lernen, dass nicht alle ihre Handlungen zu Freude und liebevoller Hingabe bei allen Menschen um sie herum führen.
    So! Jetzt hab ich mir auch mal Luft gemacht!
    LG
    Ulrike

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    • Na klar kann ich das verstehen! Du darfst dich ja auch ärgern! Sollte ich beim nächsten Flug elf Stunden lang ein schreiendes Baby neben mir sitzen haben, würde ich auch ne Krise kriegen. Aber so lange es keinen offensichtlichen Grund gibt, an dem man konkret was ändern könnte, bringt das ja keinem was, die Eltern dann auch noch anzupampen. Das hab ich aber so schon (bei anderen) erlebt.

      Ich will ganz sicher keinem einen Freifahrschein ausstellen, dass Kinder „halt so sind“, „man da eh nix machen könnte“ und „die aber doch so niedlich!“ sind. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Kindern im Grundschulalter, die sich gegenseitig über zwei Reihen hinweg mit Eiswürfeln bewerfen (hatte ich mal genau so in der Bahn) und einem Kleinkind, das beim Essen ein Stück Brot runterfällt. Nur mal als Beispiel. Und ich hab schon oft genug mitbekommen, dass die Kleineren gerne mal angemotzt werden, weil die sich ja nicht richtig wehren können, während man sich bei den Größeren nicht traut.

      Ich weiß auch selbst, dass es eine schwierige Gratwanderung ist, ob (und wenn wie) man was zu anderen sagen sollte. ;)

      Liebe Grüße, Mareike

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  2. Zum Thema “ Und ich interessiere mich null dafür, dass Sie früher den ganzen Tag mit Ihren Freunden im Wald gespielt haben. Sogar ohne Handy!.“ fällt mir glatt eine ältere Dame ein, die bei unserem Kielbesuch neulich sich gar nicht mehr darüber einkriegte, dass wir für 2 2Jährige jeweils einen Buggy und ein Laufrad dabei hatten. „So ein Tüdelkram, den hatten wir früher (TM) nicht. Das muss doch auch ohne gehen, wo soll das sonst hinführen mit dem ganzen Tüdelkram“. Anstelle froh zu sein, dass wir bei Nieselregen die Kinder draußen beschäftigen und die glücklich auf ihren Laufrädern durch die Gegend rasen….

    Ansonsten bin ich bei dir. Keiner mag Kindergeschrei, auch wir Eltern nicht. Aber andere Menschen nerven im Flugzeug auch. Derjenige, der neulich im Flugzeug am anderen Sitz vom Gang saß und ständig seine nackten Füße in Richtung meiner Füße schob, der war auch nicht der Hit!

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    • Das kenne ich. Ich erklärte neulich, dass ich den Buggy nur mitgenommen habe, weil ich einkaufen musste und mir nicht sicher war, wie müde der Kleine schon ist. Ich hatte überraschenderweise keine Lust, im Zweifelsfall Einkäufe, Kind und Laufrad zu tragen. Denn sind wir realistisch – darauf läuft es dann irgendwann hinaus. Wenn ich mir die Einkäufe aber liefern lasse oder ihm sonstwie niemals beibringe, dass das nicht einfach „da“ ist, ist das ja auch keine richtige Botschaft. Wie man’s macht, macht man’s falsch.

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  3. Ich saß auf dem Rückflug von Dubai nach Deutschland in der Nähe von einem kleinen Jungen, der geweint hat – die Eltern haben sich echt Mühe gegeben, aber er hat sich nicht beruhigen lassen. Das war auch verständlich, die Klimaanlage im Flugzeug war nämlich leider kaputt und wir waren bei über 40 Grad Außentemperatur losgeflogen (mit einer Stunde Verspätung, weil man zuvor versucht hatte, die Klimaanlage zu reparieren). Die Nerven lagen also bei allen blank. Mir war’s egal, ich habe dank Jetlag wunderbar geschlafen – bis ich vom Schimpfen meiner Nachbarn geweckt wurde (über den Lärm den das weinende Kind macht). Ich kann den Text also sehr gut nachvollziehen.

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